Elena Reygadas – Die beste Köchin der Welt

Hotel-Gasthaus Hirschen
Kirchgasse 3
78343 Gaienhofen-Horn
Tel. 07735/93380
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Es gibt nicht wenige weitgereiste Gourmets, die man heutzutage gerne salopp „Foodies“ nennt, die den Biss in einen Taco in Mexico City zu den unvergesslichsten kulinarischen Erlebnissen ihrer weltweiten Genussreisen zählen. Augenschließende Momente des Innehaltens. Gerne von einem Food-Truck direkt auf die Hand. Elena Reygadas hat bei ihrem Taco die Tortilla durch ein Grünkohlblatt ersetzt. Die 47-Jährige ist von der britischen Rangliste „50 Best“ in diesem Jahr zur besten Köchin der Welt gewählt worden. Man sollte die Bedeutung dieser Auszeichnung nicht unterschätzen in einer Region, die von den europäischen Großkulinarikern mit ihren Sternen und Hauben mit Missachtung gestraft wird. Wirklich überraschend kommt dieser Titel nicht, denn bereits 2014 wurde sie „Latin America’s Best Female Chef“ und gilt seither als Leitfigur der mexikanischen und lateinamerikanischen Gastronomie.

Elena Reygadas, geboren in Mexico City, stammt aus einer kinderreichen Familie und begann schon sehr jung mit dem Kochen, weil die Küche das Herz des familiären Trubels war, weil sie auf diese Weise mehr Zeit mit Familie und Freunden verbringen und weil sie, wie sie selbst sagt, damit auf dezente Weise ihre Zuneigung ausdrücken konnte. Die ersten Rezepte stammten natürlich von der Mutter und der Großmutter. Ins Staunen brachten sie von klein auf die Roadtrips mit ihrer Familie durch die mexikanischen Landschaften, auf denen sie erlebte, wie deutlich sich das Essen von Region zu Region unterschied. Und ihr Vater bestand darauf, dass Elena immer alles probierte. Doch als das College näher rückte, war Köchin nicht ihr vorrangiger Berufswunsch: Sie studierte englische Literatur und machte ihren Abschluss mit einer Arbeit über den Roman „The Waves“ von Virginia Woolf. Im Anschluss folgten erst einmal die üblichen Neugierde-Jobs, bis sie eines Tages den Auftrag bekam, über einen längeren Zeitraum für eine große Gruppe zu kochen – und spürte, wie sehr ihr das Kochen gefehlt hatte und wie sehr sie es liebte. Mutig ging sie nach New York und besuchte das damalige French Culinary Institute, wo sie unter anderem Tage damit verbrachte, das Brotbacken zu lernen. Danach zog es Elena Reygadas nach London, wo sie sich erfolgreich bei Giorgio Locatelli beworben hatte, ihrer Pasta-Liebe folgend. Locatelli, der später auch als Kochbuchautor und TV-Host berühmt wurde, hatte bereits mit fünf Jahren im Restaurant seines Onkels angefangen zu kochen. 2002 eröffnete er sein eigenes Restaurant Locanda Locatelli, das bereits im Jahr darauf einen Michelin-Stern erhielt und ihn bis heute hält. Bei Giorgio, bei dem sie vier Jahre blieb, holte sich Elena den Feinschliff für ihre Küchenphilosophie: den Respekt vor den Zutaten, den Wunsch, das Wohlbefinden ihrer Gäste zu fördern – kulinarisch, atmosphärisch und gesundheitlich –, und eine gewisse Klarheit, eine schnörkellose Einfachheit ihrer Gerichte im Sinne der Zugänglichkeit für den Gast, die über die Finesse ihrer Rezepturen nicht hinwegtäuschen sollte.

Nach der Geburt ihrer ersten Tochter Lea beschloss Elena nach Mexico City zurückzukehren, und richtete sich im schicken Stadtviertel Colonia Roma ein kleines privates Restaurant ein, in dem sie Abendessen servierte. Im Februar 2010, einige Monate nach der Geburt ihrer zweiten Tochter Julieta, eröffnete sie ebenfalls in der Colonia Roma das „Rosetta“ in einem alten wunderschönen Herrenhaus mit mehreren kleinen Küchen. Jeder Raum des Restaurants ist mit Vintage-Möbeln ausgestattet, die sie auf Flohmärkten und in Secondhand-Läden erstanden hat, und voller Pflanzen, damit er sich bei aller Eleganz der Kulinarik wie ein einladendes Zuhause anfühlt. In den Anfangsjahren war das „Rosetta“ deutlich von italienischen Techniken beeinflusst, deren Spuren man immer noch findet, wenn auch subtil. Doch nach und nach änderte sich Elenas Fokus. Sie begann, in Erinnerung an die Roadtrips ihrer Kindheit, mit Produkten und Methoden der mexikanischen Küche zu experimentieren. Heute basiert ihr täglich wechselndes Menü, bei dem Pflanzen und Gemüse eine zentrale Rolle spielen – oft in möglichst purer Schönheit präsentiert –, auf saisonalen Zutaten von kleinen lokalen Produzenten, die sie häufig besucht. Fast täglich sieht man Elena Reygadas mit dem Boot auf den Kanälen von Xochimilco, den schwimmenden Gärten der Azteken vor den Toren der Stadt.

Zu Reygadas bekanntesten Gerichten gehört jener anfangs bereits erwähnte Grünkohl-Taco mit Pistazien-Pipián-Sauce, einer Sauce aus püriertem Gemüse, gerösteten und gemahlenen Kürbiskernen und getrockneten Chilischoten. Aber auch überraschende Kombinationen wie ihre Ravioli mit Matcha-Sauce, das Mais-Tamal mit warmer geräucherter Sahne und das Avocado-Sorbet mit fermentierten Pflaumen haben sich zu Klassikern der modernen mexikanischen Küche entwickelt. Mit ihrer Auszeichnung als beste Köchin der Welt ist Elena Reygadas bereits die vierte Lateinamerikanerin in Folge, nach der Mexikanerin Daniela Soto-Innes, der Peruanerin Pía León und der Kolumbianerin Leonor Espinosa. „Dieser Preis ist allen Frauen gewidmet, die seit Tausenden Jahren in der Küche stehen und mich auf vielfältige Weise inspiriert haben“, kommentierte Reygadas kämpferisch. Aber ist es Zufall, dass die letzten Preisträgerinnen allesamt aus Lateinamerika stammen? Eher nicht! Nun ist die Rückbesinnung auf Kochtraditionen, lokale Zutaten und Produzenten ja kein typisch lateinamerikanisches Phänomen. Aber diese Küche verzichtet bewusst auf das Vergeistigte der skandinavischen Kollegen, die diese Art dogmatischer Kulinarik zuerst bekannt gemacht haben. Die Verbissenheit in Nordeuropas Küchen weicht ja erst langsam einer gewissen Lebensfreude, eine kulinarische Ausnahme bilden hier die Vildgaard-Brüder, die seit jeher das Seelenvolle mit dem Anspruchsvollen verschmelzen: Eric in seinem Restaurant „Jordnær“ in Gentofte im Norden Kopenhagens, Torsten als kulinarischer Impresario im Restaurant-Kosmos des schwedischen 3-Sterne-Kochs Björn Frantzén. Die kulinarische Herzenswärme der lateinamerikanischen Küche ist allerdings beileibe kein „Frauending“. Typisch weiblich scheint jedoch der Umgang mit den Mitarbeitern zu sein: Hochqualifizierte Praktikanten ohne Lohn wird man bei Elena & Co. nicht finden. Im Gegenteil: Elena Reygadas hat heute über 400 Angestellte.

Zum Zeitpunkt der Eröffnung ihres Restaurants war es ungewöhnlich, dass ein Restaurant sein eigenes Brot backt. Für Elena war Brot jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Gemeinschaftsgefühls beim Essen und sie hat es von Anfang an im „Rosetta“ gebacken – so wie in New York gelernt und bei Giorgio Locatelli verfeinert. Dazu kommt: Für Elena ist das Teigkneten eine Entspannungsübung, fast schon eine Meditation. Sie macht es einfach wahnsinnig gerne, wie sie selbst sagt. Und offensichtlich auch ziemlich gut, denn bald fragten Gäste, ob sie ihr Brot mit nach Hause nehmen könnten, und am frühen Morgen, lange bevor das Restaurant öffnete, kamen die Menschen aus der Nachbarschaft für einen Laib Brot vorbei. Also beschloss die tatkräftige Elena Reygadas, eine Bäckerei zu eröffnen und 2012 entstand die „La Panadería de Rosetta“, nur einen Katzensprung vom Restaurant entfernt. Unverhofft wurde sie zu einer Pionierin für die Wiederbelebung handwerklicher Backtechniken, für langsame Fermentation und die Kultivierung von Sauerteig in Mexiko. Und sie wurde zu einer beliebten Arbeitgeberin, weil sie ihre Türen auch für Menschen ohne Ausbildung öffnete, die während der Tätigkeit in der Bäckerei alle notwendigen Fertigkeiten und ein echtes Handwerk lernten. Elenas Rosmarinbrötchen ist unvergesslich und ihr Guavenbrötchen hat Kultstatus erlangt: Bäckereien im ganzen Land haben eigene Versionen davon gebacken. Auch traditionelle mexikanische Brotsorten wurden von Reygadas wieder zum Leben erweckt, wie das Puerquito de Piloncillo, das Brot zum Tag der Toten, oder das süßliche Pulque-Brot. Mittlerweile hat sie drei weitere Lokale eröffnet: das „Lardo“, ein zwangloses Restaurant in der Colonia Condesa, das „Café Nin“, inspiriert von alten literarischen Cafés als Erinnerung an ihr Studium, und das „Bella Aurora“, eine Hommage an die klassische italienische Küche und ihre Zeit bei Giorgo Locatelli. Zuletzt kam im zweiten Stock des Hauptrestaurants der „Salón Rosetta“ dazu, eine gemütliche Bar, in der Cocktails und fermentierte Getränke mit mexikanischen Zutaten gereicht werden.

Zudem schreibt sie Essays für die Washington Post, El País und das Purple Magazine und hat 2019 ihr erstes Kochbuch „Rosetta“ veröffentlicht, das sie gemeinsam mit dem Berliner Designer Manuel Raeder gestaltete, der auch ein Büro in Mexico City hat. Ein beeindruckend schönes und gehaltvolles Buch, das weit über die Rezepturen hinausgeht und dem Leser Produkte, Faszination und Philosophie näherbringt. Und Elena hat das „Beca Elena Reygadas“-Stipendium ins Leben gerufen, das mexikanischen Studentinnen offen steht, die sich erfolgreich an einer Kochschule beworben haben, um die Chancengleichheit sowie die Führungsrolle mexikanischer Frauen in der Welt der Gastronomie zu stärken.

Ob Elena Reygadas die beste Köchin des Planeten ist? Wer kann das schon ehrlich beurteilen. Aber eine der großartigsten Gastronominnen aller Zeiten ist sie auf jeden Fall.

Bildrechte: Photographer Ana Lorenzana © Elena Reygadas BOM DIA BOA TARDE BOA NOITE (Gruppenfoto, Restaurant Innenansicht – beide aus dem Buch „Rosetta“), Maureen M. Evans (Essen, Pasta-Team, Elena Reygadas, Küche)