The Chelsey Bindery

Bücher waren schon immer mehr als nur Medien, die Inhalte transportieren. Bücher waren und sind Kultobjekte, deren Faszination heute vielleicht gerade darin liegt, dass sie in Zeiten eines uns stets umgebenden und oft kaum mehr zu bewältigenden Stroms an digitalen Mikroinformationen Inhalte und Geschichten sowie die damit verbundenen Emotionen im engeren Wortsinn greifbar machen. Während TikTok Reels oder Instagram Stories schnell in der Erinnerung verblassen, kommen Bücher, um zu bleiben, sie geben uns Halt in einer zunehmend verunsichernden Welt und schenken uns wertvolle Momente meditativen Innehaltens. Hält man ein Buch in der Hand, hält man etwas Handfestes. Wobei Buch nicht gleich Buch ist. Folgen Taschenbücher eher einem nüchternen Form-follows-function-Diktat, machen schön gestaltete und aufwendig gebundene Ausgaben das Leseerlebnis zu einem Ritual, das mit allen Sinnen genossen werden möchte. Es hat etwas Beglückendes, mit den Fingern über einen mit edlem Leder bezogenen Einband, über ein feines Vorsatzpapier oder über ein hübsches Einlegebändchen zu streichen, den seidigen Glanz eines Schnitts aus Echtgold zu bewundern oder sich dem unverwechselbaren, Ruhe und Vertrautheit ausstrahlenden Geruch von Papier, Bindeleim und Druckerschwärze anzuvertrauen.

Eine der weltweit ersten Adressen für Buchliebhaber und -sammler auf der Jagd nach seltenen Ausgaben und meisterhaft ausgeführten Bindearbeiten ist die 1969 gegründete Londoner Buchhandlung Peter Harrington Rare Books. Die Buchhandlung, die über zwei Geschäfte verfügt, einen Flagshipstore in Chelsea und eine Dependance im West End, ist die größte ihrer Art in Europa und in zweiter Generation im Besitz von Peter „Pom“ Harrington, selbst versierter Sammler. Zu seinen Schätzen gehört etwa ein Exemplar des Romans „The Wicker Man“ aus der Bibliothek des Kultschauspielers Christopher Lee, der in dem gleichnamigen Horrorfilm die Hauptrolle spielte. Allein in Chelsea lagern mehr als 20.000 Bände, vom Shakespeare-Folianten aus dem 17. Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischen Klassikern wie signierten Erstausgaben der Harry-Potter-Serie. Darüber hinaus betreibt Peter Harrington eine Galerie für Druckkunst der Moderne, von Impressionismus und Expressionismus über Pop-Art bis hin zu Gegenwartskunst. Auf der Liste der Künstler, die ausgestellt und angeboten werden, finden sich die ganz großen Namen, wie Gustav Klimt, Salvador Dalí, Andy Warhol oder Egon Schiele. Von Letzterem steht eine signierte Lithografie, ein Selbstbildnis als Akt, für eine mittlere fünfstellige Pfund-Summe zum Verkauf. So weit schon sehr beeindruckend, wäre da nicht auch noch The Chelsea Bindery, die hauseigene Buchbinderei, die seit dem Jahr 2000 existiert und Peter Harringtons Räumlichkeiten endgültig zum Sehnsuchtsort für passionierte Bibliophile aus aller Welt macht.

The Chelsea Bindery ist alles andere als eine gewöhnliche Buchbinderei. Statt einem abgenutzten Buch einfach einen neuen Einband zu verpassen, pflegt man hier in einer 185 qm großen Werkstatt die hohe Kunst des Fine Binding. Anfangs auf Restaurierung und Konservierung erworbener Bücher fokussiert, erkannte man schnell, dass ein wachsender Bedarf an speziellen, aufwendigen Neubindungen oder Schmuck-Schubern für wertvolle Ausgaben bestand. Nicht zuletzt ist der physische Zustand eines raren Buches der Hauptfaktor, der seinen Wert bestimmt. Eine Erstausgabe in sehr gutem Zustand, mit intaktem Originaleinband oder Schutzumschlag, kann auf dem Markt ein Vielfaches des Preises einer schlecht erhaltenen Ausgabe erzielen. Zahlt man für eine Erstausgabe von „The Great Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald im originalen Schutzumschlag über 100.000 Euro, ist eine ähnlich gut erhaltene Ausgabe ohne Schutzumschlag immerhin noch ein paar Tausend Euro wert. Ist der Einband eines Exemplars stark ramponiert, liegen die dafür aufgerufenen Preise noch einmal deutlich darunter. Solchen Exemplaren, deren vollständige Restaurierung sich nicht lohnen würde, widmet sich The Chelsea Bindery. Immer jedoch vorausgesetzt, dass die Buchseiten makellos und nicht etwa stockfleckig oder anderweitig beschädigt sind. Dann kann eine kunstvolle Neueinbindung den Wert des Buches wieder erheblich steigern.

Was genau versteht man aber unter kunstvoll und was unter Fine Binding, wollen wir von Emma Doyle wissen, die The Chelsea Bindery als Managerin vorsteht, für den Einkauf zuständig ist und entscheidet, welche Art der Bindung und welches Coverdesign den Kundengeschmack am besten treffen könnten. „Ein nach den Kriterien des Fine Binding gestalteter Einband ist besonders aufwendig und dekorativ und stellt für sich selbst genommen ein Sammlerstück dar“, erläutert die 48-Jährige. „Solche Einbände sind meist aus Leder, manchmal aus Stoff, aus Samt oder seltener aus Holz. Veredelungen wie Goldschnitt oder farblose, reliefartige Blindprägungen und natürlich bestickte, handbemalte, vergoldete oder mit Motiven aus hauchdünnem aufgeklebten Leder, sogenannten Onlays, versehene Cover kommen dazu.“ Bei historischen Einbänden bedeutender britischer Buchbindereien wie Sangorski & Sutcliffe oder Bayntun-Rivière kamen früher sogar Edel- oder Halbedelsteine zum Einsatz. Eine Praktik, die The Chelsea Bindery z. B. für die Gestaltung des Einbandes von „Breakfast at Tiffany‘s“ von Truman Capote übernahm, dessen Cover die Silhouette von Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen zeigt und in deren Halskette und Tiara echte Diamanten glitzern.

Um sich einen Eindruck zu verschaffen, wie aufwendig sich eine Neubindung de lege artis gestaltet, hilft ein Blick hinter die Kulissen der Manufaktur. Dem Besucher begegnet ein auf den ersten Blick unentwirrbares Durcheinander von Werkzeugen mit für den Laien kryptisch und archaisch klingenden Namen wie Falzbein oder Ahle. Automatisierung? Fehlanzeige. Alles wird in Handarbeit gefertigt, unterstützt von nur wenigen Maschinen wie einer fast 90-jährigen Intertype-Setzmaschine zur Beschriftung von Büchern, die einst in der legendären Londoner Zaehnsdorf Bindery ihren Dienst verrichtete. „Mit ganz wenigen Abweichungen arbeiten wir immer noch wie anno dazumal“, so die Geschäftsführerin. „Früher wurde z. B. Klebstoff tierischen Ursprungs verwendet, der Insekten anzieht, heute nehmen wir synthetischen Kleber.“ Der Prozess des Bindens selbst besteht aus gut zwei Handvoll Arbeitsschritten, von denen jeder einzelne, vom Auftrennen und erneuten Zusammennähen der einzelnen Abschnitte des Buches über das Anbringen von Verzierungen in 22-karätigem Blattgold bis hin zum Aufkleben der oft ausgesprochen kleinteiligen Leder-Onlays, äußerste Präzision in der Ausführung erfordert. Um z. B. die gewünscht scharfe Beschriftung der Buchrücken oder Cover zu erreichen, müssen die Lettern mit genau dem richtigen Druck und der richtigen Temperatur auf das Leder treffen, damit es nicht verbrennt, was zu einem leicht geschwärzten Aussehen führen würde. Neben Präzision und Erfahrung braucht das Buchbinden zudem viel Geduld, da die Fertigstellung einer Bindearbeit bis zu zwölf Wochen dauern kann, was auch damit zusammenhängt, dass zwischen bestimmten Arbeitsschritten immer wieder Trockenzeiten nötig sind. Und so werden von den fünf Mitarbeitern, die mit dem Binden beschäftigt sind, nur 150 (!) Bücher pro Jahr gebunden, eine verblüffend geringe Zahl, die den betriebenen Aufwand eindrucksvoll illustriert.

Ein Aufwand und eine Exklusivität, die sich auch in den Preisen niederschlägt, die für eine Neubindung aufgerufen werden. Ein einfacher Einband ist ab etwa 900 Euro zu haben, ein Ledereinband mit Onlays ab 1.700 Euro. Besonders komplexe Arbeiten können noch deutlich mehr kosten. Dafür hält man dann aber ein Unikat in den Händen, ein zeitloses Stück Buchkultur, für das nicht nur Sammler gerne so tief in die Tasche greifen: „Viele unserer Arbeiten sind auch als Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk gefragt. Es gibt kaum ein Geschenk, das als persönlicher wahrgenommen wird als ein hochwertig gebundenes Lieblingsbuch, das einen womöglich schon von Kindestagen an begleitet“, schwärmt Emma Doyle. Ihr Lieblingsbuch? „Unter anderem ‚Alice in Wonderland‘ von Lewis Carroll. Daraus hat mir mein Vater immer vorgelesen, als ich klein war. Heute bin ich stolze Besitzerin einer Erstausgabe im The-Chelsea-BinderyMakeover, deren Onlay-Cover eine der ikonischen Illustrationen von Arthur Rackham nachbildet.“

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